Positionierung zum „Nachwuchskonzept“ der Universität Kassel

Kassel, 06.07.2020

Sehr geehrte Mitglieder des Hochschulrates, sehr geehrte Mitglieder des Senats,

Das Präsidium hat einen „Entwurf des Konzepts zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses 2020“ vorgelegt. Als Initiative von wissenschaftlichen und technisch-administrativen Beschäftigten an der Universität Kassel möchten wir im Folgenden zu dem Entwurf Stellung nehmen. Wir sind der Auffassung, dass es in dem Papier leider weder um ‚Nachwuchs‘ noch um Förderung von Wissenschaftler*innen unterhalb der Professur geht. Stattdessen wird ein System der Hochschule verteidigt, in dem Befristung und Unsicherheit für die Beschäftigten im Mittelbau Normalzustand sind.

Wir haben Kritik an vier grundsätzlichen Punkten:

 

  1. Die Bezeichnung des Mittelbaus als ‚Nachwuchs‘

Das Präsidium besteht auf der Verwendung des „Begriffes ‚Nachwuchs‘“, da „die hochschulpolitische Diskussion in Deutschland ihn bis heute nutzt“ (S. 1). Hätte es sich genauer mit dieser Diskussion beschäftigt, hätte es schnell feststellen können, dass die fragliche Ausdrucksweise von vielen Kommentator*innen scharf kritisiert wird (z.B. Birsl 2008: 96; Doering 2017; Lepper 2019; NGAWiss 2019). Sie ist nicht nur infantilisierend, sondern auch unwissenschaftlich, weil sie ihren Gegenstand nicht adäquat erfasst. Angesichts von auf Dauer gestellter Prekarität und hochgradig unsicheren Zukunftsaussichten für die allermeisten Mitglieder des Mittelbaus schreibt der bekannte Historiker Martin Schulze Wessel (2015): „(…) der Begriff des ‚wissenschaftlichen Nachwuchses, der junges Alter und ein organisches Hinüberwachsen von der Ausbildung in den Beruf suggeriert, [ist] euphemistischer Hohn.“ Wir hätten es nicht besser ausdrücken können.

Es wäre für das Präsidium ein Leichtes gewesen, auf die Verwendung eines Ausdrucks zu verzichten, der den Mittelbau dieser Universität verhöhnt. Dennoch besteht es darauf, ihn zu verwenden. Schon hier zeigt sich, dass es an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Belangen des Mittelbaus nicht interessiert ist.

 

  1. Die Rahmenbedingung der Promotion

Das Konzept sieht vor, dass der Anteil „der eigenständigen wissenschaftlichen Arbeit“ bei Stellenbeschreibungen für Promovierende 33 Prozent beträgt (S. 3). Dabei beruft sich das Präsidium auf die bestehende Rechtslage. Es sei dahingestellt, ob es keine anderen Möglichkeiten zur Auslegung des Hessischen Hochschulgesetzes gibt. Allerdings möchten wir darauf hinweisen, dass Promovierende unter diesen Bedingungen bei den üblichen 50-Prozent-Stellen nur ca. 6½ Stunden pro Woche für die Promotion aufwenden können.

Dennoch will das Präsidium Betreuer*innen durch ein Prämiensystem weiterhin dazu anhalten (S. 7), Promovierende in vier Jahren zum Abschluss zu führen. Wie soll das in 6½ Stunden pro Woche machbar sein? Sollen die Betroffenen wissenschaftliche Standards nicht einhalten? Ihre Aufgaben in Lehre und Selbstverwaltung vernachlässigen? Oder in ihrer Freizeit promovieren? Unserer Erfahrung nach wählen die meisten Kolleg*innen die letzte Option. Angesichts dessen ist es vollkommen unverständlich, dass das Präsidium weiterhin mit Stellensperrungen reagiert, wenn Promovierende auf Landesstellen nicht in fünf Jahren zum Abschluss kommen. Genauso wenig ist nachzuvollziehen, warum Landesstellen auf 3+2 Jahre befristet werden – anstatt den durch das WissZeitVG gesetzten gesetzlichen Rahmen voll auszuschöpfen und Promotionsstellen auf 3+3 Jahre zu befristen.

 

  1. Die Situation promovierter Wissenschaftler*innen ohne Professur

Wenn es sich bei promovierten Wissenschaftler*innen ohne Professur um „recognised“ bzw. „established researchers“ handelt (S. 3), wieso müssen sie sich dann überhaupt weiter qualifizieren, und mit welcher Rechtfertigung enthält man ihnen Dauerstellen vor? Einer Daueranstellung von Mitgliedern des Mittelbaus steht rechtlich nichts im Wege. Dennoch verteidigt die Hochschulleitung den deutschen Sonderweg einer Habilitation, die für die Betroffenen hochgradige berufliche Unsicherheit bedeutet – trotz extrem hohen Qualifikationen, oft umfangreicher Berufserfahrung und großer Verantwortung in den Bereichen Forschung und Lehre.

Im Jahr 2014 kamen in Deutschland auf eine Person, die erstmalig auf eine Professur berufen wurde, fünf Personen, die ihre Habilitation abgeschlossen haben (BuWin 2017: 194); das Durchschnittsalter der Erstberufenen war 41. Ist das Präsidium ernsthaft der Auffassung, dass es der Arbeitslosigkeit bzw. einem angesichts des Alters der Betroffenen höchst schwierigen Berufswechsel durch „Beratungsformate und Förderinstrumente“ vorbeugen kann, die „die Graduiertenakademie zusammen mit dem Career Service“ entwickeln soll? (S. 4) Wäre es nicht an der Zeit, dass das Präsidium seiner Verantwortung für die eigenen Beschäftigten nachkommt, indem es endlich umfassend Dauerstellen unterhalb der Professur schafft? Der hessische Hochschulpakt 2021-25 sieht ausdrücklich vor, dass im Mittelbau „neue Personalkategorien erprobt werden“ können – und dazu gehören ausdrücklich „unbefristete Beschäftigungsverhältnisse (…) neben der Professur“ (HMWK 2020: 17). Genau dies wäre ein geeigneter Ausgangspunkt für ein Konzept zur Förderung nicht-professoraler, promovierter Wissenschaftler*innen an der Universität.

 

  1. Die Frage der Gleichstellung

Faktisch läuft das Fehlen von Dauerstellen darauf hinaus, dass viele Wissenschaftler*innen sich gegen die Familiengründung entscheiden – oder mit massiven Nachteilen zu kämpfen haben, weil sie in einer enorm unsicheren beruflichen Situation Auszeiten zur Kinderbetreuung nehmen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass das Befristungssystem zu Lasten von Frauen geht (Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2017; Schürmann (2017); Hüther/Krücken 2018: 219). Angesichts dessen ist nicht nachvollziehbar, wie die Hochschulleitung ernsthaft behaupten kann, der „Gleichstellung der Geschlechter einen hohen hochschulpolitischen Rang“ einzuräumen beziehungsweise „die Vereinbarung von Qualifizierung und Familie“ zu fördern (S. 2). Dass dies nicht der Fall ist, hat auch die Corona-Pandemie gezeigt, denn es gab keinerlei Unterstützung und auch keinen Nachteilsausgleich über die gesetzlichen Vorgaben hinaus.

 

Angesichts unserer Kritikpunkte empfehlen wir Ihnen, das Papier in dieser Fassung nicht zu unterstützen.

 

Mit freundlichen Grüßen

Uni Kassel Unbefristet

 

Literaturverzeichnis

Birsl, U. (2008) Das Alles-oder-Nichts-Prinzip, in: Klecha S. und W. Krumbein (Hg.) Die Beschäftigungssituation von wissenschaftlichem Nachwuchs, Wiesbaden: VS Verlag, 89-120.

Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (BuWiN) (2017) Statistische Daten und Forschungsbefunde zu Promovierenden und Promovierten in Deutschland. Bielefeld: WBV.

Doering, K. (2017) Wollen wir wirklich BeStI(e)n sein? Ein Plädoyer an und gegen ‚den wissenschaftlichen Nachwuchs‘, Blog Mittelalter – Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 14. Februar 2017, https://mittelalter.hypotheses.org/9774 [Zugriff: 06.07.2020].

HMWK (2020) Hochschulpakt 2021-2025, https://wissenschaft.hessen.de/sites/default/files/media/hmwk/200310_hhsp_2021-2025.pdf [Zugriff: 06.07.2020].

Hüther, O. und G. Krücken (2018) Higher Education in Germany: Recent Developments in an International Perspective, Springer: Cham.

Lange-Vester, A. und C. Teiwes-Kügler (2017) Habitus und milieuspezifische Strategien: Wissenschaftliche Mitarbeiter_innen unter prekären Beschäftigungsbedingungen. Berliner Debatte Initial, 28(1): 122–132.

Lepper, M. (2019) So kommt keiner voran, Die Zeit, Nr. 26/2019, 19. Juni 2019, https://www.zeit.de/2019/26/nachwuchswissenschaftler-begriff-ambivalenz-befristungen-unzufriedenheit [Zugriff: 06.07.2020].

NGAWiss (2019) Bayreuther Bankrotterklärung, 10. Oktober 2019, https://www.mittelbau.net/bayreuther-bankrotterklaerung/ [Zugriff: 06.07.2020].

Schulze Wessel, M. (2015) Einführung. Wissenschaftlicher Nachwuchs: Unwucht im System korrigieren, Blog des Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, 30. Oktober 2015.

Schürmann, R. (2017) Karrierewunsch trifft Realität: Aufstiegslogiken von Frauen und Männern im akademischen Wissenschaftssystem. Berliner Debatte Initial, 28(1): 133–145.

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